Interview mit Sabrina Janesch

Was haben Sie mit ihrer Hauptfigur Nele Leibert gemeinsam, und was unterscheidet Sie?

Neles und meine Biographie decken sich, was ihre Familiengeschichte angeht, aber sonst haben wir nicht viel gemeinsam. Im Gegensatz zu mir hat Nele das zwiespältige Verhältnis ihrer Großeltern zu dem Ort Schlesien und dem Hof übernommen. Noch als Erwachsene, als ihre Großeltern tot sind, spürt sie die Schatten, die über dem Hof liegen, und fühlt sich selber plötzlich in der Verantwortung, sich ihnen entgegenzustellen. Das ist bei mir anders, ich fühle mich zu Hause auf diesem Bauernhof, habe ihn als Kind abgöttisch geliebt.

Inwiefern verstehen Sie sich mit ihrem Roman nicht nur als Schreiberin einer Individual-Geschichte, sondern auch von Geschichte im historischen Sinn?

Mir war wichtig, die Erfahrung wiederzugeben, wie es war, nicht aus, sondern nach Schlesien vertrieben zu werden – ein Thema, das vielen Deutschen zumindest wenig vertraut ist. Insofern ist es ein Beitrag, hoffentlich, zu einer Art deutsch-polnischem Verständnis. Das Schicksal vieler Polen habe ich mit der Figur Janeczko dargestellt. Er ist der Kern des Romans, so gesehen, erzähle ein persönliches Schicksal. Anders betrachtet, sind die Vertreibung und die Umstände in Schlesien eine allgemeingültige Erfahrung, die Tausende von Polen im selben Maße teilen.

Haben Sie für den Roman Geschichtsbücher gewälzt?

Ja, um sicherzugehen, dass ich mich nicht falsch an das erinnerte, was mein Großvater mir erzählt hat. Und um sicherzugehen, dass er sich nicht falsch erinnerte. Und teilweise habe ich festgestellt, dass mir meine Erinnerung an das Erzählte manchmal ein Schnippchen schlägt. Ich habe viel gelernt, das hat sich gleich doppelt gelohnt.

Der Großvater in Ihrem Roman, Janeczko, schreibt immer wieder die Realität um, tatsächliche Bedrohungen verwandeln sich in seiner Welt beispielsweise in fiktive »Biester«, in das Böse, das ihm auflauert und keine Ruhe lassen will. Ist Poetisierung eine Überlebensstrategie?

Poetisierung klingt fast zu positiv für den Kampf, den Janeczko mit sich ausgefochten hat. Um sich an diesem neuen Ort – Schlesien – zu behaupten und sich generell in der Welt zu verorten, hat er sich weder aus dem Christentum bedient noch aus irgendeinem politischen System, auch die alten Sagen und Traditionen aus Galizien hatten ihre Gültigkeit verloren. Alles, was er sah, was er erlebte, hat er selber mit Bedeutung aufgeladen und sich erklärt – er selber glaubte ja an all diese Dinge. Für ihn waren sie die Realität.

Warum schreiben Sie?

Weil ich Geschichten erzählen möchte, vom Reden aber unheimlich schnell heiser werde…

Janeczko gehört zu jener Generation von Ostpolen, denen durch den Zweiten Weltkriegs die alte Heimat genommen und fremdes Land als eine neue verkauft wurde. Was ist Heimat aus Ihrer Sicht?

Heimat findet für mich einmal in meiner Erinnerung statt, die Orte meiner Kindheit, dann aber auch in kleinen Dingen wie Gerüchen, Geräuschen, Geschmäckern. Wie jemand etwas aussprach, was für ein Geräusch der Regen machte, wie die Felder im Hochsommer rochen, und wie im Herbst. Der Geruch von verbranntem Holz im Winter: Ich kann in einer völlig fremden Stadt sein – wenn ich das rieche, fühle ich mich für einen Moment zu Hause. Das ist für mich konkreter als der Ort heute, an dem ich aufwuchs. Die Umgebung und er selber haben sich so verändert, das ist kaum noch deckungsgleich.

In Ihrem Roman spricht Nele Leibert immer wieder bruchstückhaft Polnisch, sie denkt und erzählt aber auf Deutsch. Fühlen Sie sich im Polnischen beheimatet?

Es ist eine Art vertraute Fremde. Ich finde es ein großes Geschenk, mich in Polen verständigen zu können, ohne dass jeder denkt: Aha, das ist eine Deutsche. Das bringt viel mehr Nähe zu den Leuten und zur Kultur, in einer Sprache spiegelt sich auch die Denkweise eines Volkes. Schreiben würde ich aber nicht auf Polnisch, weil mir Deutsch die vertrauteste aller Sprachen ist.

2009 lebten Sie als Stadtschreiberin in Danzig. Was sollte man als Deutsche/r beim abendlichen Bier mit einem Polen besser nicht über die Lippen bringen? Ihre Top Five!

1. Toll, wie viele Leute hier schon Handys haben!
2. In Deutschland schmeckt das Bier aber besser…
3. Warte mal kurz, ich muss nachsehen, ob mein Auto noch da ist.
4. Die Erika Steinbach ist schon ‘ne Tolle.
5. Du bezahlst doch, oder?

In welche literarische Schule sind Sie gegangen? Wer sind Ihre Helden?

Ich ziehe meinen Hut vor Bulgakow, Tolstoi, Dostojewski. Bulgakows Meister und Margarita habe ich unzählige Male gelesen. Márquez’ Hundert Jahre Einsamkeit haben mich bestürzt zurückgelassen, dass man so etwas schreiben kann. Dank bin ich Elias Canetti schuldig, Günter Grass für die Blechtrommel, Czesław Miłosz für das famose Werk Das Tal der Issa. Außerdem begeistere ich mich für Térezia Mora, Jenny Erpenbeck, Tomasz Różycki und Olga Tokarczuk. Ganz klare Empfehlungen …

Sie sind Jahrgang 1985, also 25 Jahre alt. Die Selbstsuche der Romanfiguren einiger ihrer jungen Kollegen spielt in der Drogen-, Sex- und Clubkultur und trägt Insignien hoffnungsloser Bezugslosigkeit. Nele Leibert aus Ihrem Roman Katzenberge dagegen sucht nach der eigenen Identität in der Geschichte des Großvaters. Ist Selbstfindung einfach Typsache?

Selbstverständlich. Ich bin nun einmal in diese Familie hineingeboren worden, mit dieser Geschichte, bin auf dem Hof in Schlesien groß geworden. Was soll ich da über Berliner Clubkultur schreiben? Mich haben andere Dinge verstört, haben größere Fragenzeichen hinterlassen. Und mit diesen Dingen habe ich mich auseinandergesetzt, herausgekommen ist Katzenberge.

Im Moment schreiben Sie an einem Danzig-Roman. Das Kapitel Polen ist für Sie noch nicht abgeschlossen?

Es ist ja nicht einzig das Thema »Polen«, mit dem ich mich beschäftige, ich glaube, dafür wäre ich auch gar nicht prädestiniert. Was mich auch in diesem zweiten Roman umtreibt, sind die deutsch-polnischen Schnittstellen – oder deren Mangel. Danzig bietet sich wie kaum eine zweite Stadt als Hintergrundfolie an, mit seiner sehr wechselhaften Geschichte und den Schicksalen seiner Bewohner. Ganz nebenbei aber birgt es seine ganz eigene Magie, seine eigenen Mythen, die mich natürlich besonders interessieren.

Das Interview führte Gunnar Cynybulk